Ich habe noch nie so einen belebten Ort, wie das 'Refugio San Eugenio' oder liebevoll nur Refu genannt, gesehen. Als ich vor knapp zwei Monaten hier ankam, war ich ehrlich gesagt mit allem überfordert. Nach nur vier Wochen Sprachkurs in Paraguay konnte ich mich zwar einigermaßen verständingen, aber die vielen Menschen und der schwer verständliche Buenos-Aires-Akzent haben meine brüchigen Sprachkenntnisse doch anfangs sehr an meine Grenzen gebracht. Trotzdem wurde ich von allen sehr herzlich empfangen und direkt zu verschiedensten Feiern und Treffen eingeladen. Mittlerweile bin ich hier richtig angekommen, komme mit der Sprache ganz gut klar. Es ist schwer zu beschreiben, was das Refu ist. Es ist so vielseitig und selbst nach meiner längeren Zeit habe ich immer noch nicht alles gesehen und lerne täglich neue Namen. Trotzdem will ich versuchen einen Überblick über das Refugio und mein Leben hier zu geben:
Was ist das Refu?
Refugio bedeutet soviel wie Schutz oder Zuflucht und das beschreibt eigentlich auch sehr gut, was das Refu ist: Das Refugio ist ein Ort, an den Kinder, Jugendliche und auch Erwachsene gehen können, um Freunde zu treffen, sich auszutauschen, Sport zu treiben, Kaffee- und Abendbrot zu essen. Gegründet wurde das Refugio vor mehr als 15 Jahren von Padre Sergio. Es ist praktisch sein Lebenswerk und große Passion. Ich habe größten Respekt vor dem, was er hier aufgebaut hat und wie er das Leben von so vielen Menschen in eine bessere Richtung lenkt.
Warum brauchen die Menschen hier überhaupt einen Zufluchtsort?
Das Refu, mein jetziges Zuhause, befindet sich nahe Ruta 3 Kilometer 35. Das bedeutet, es liegt nahe einer der Hauptverkehrsstraßen, die aus Buenos Aires herausführt 35 Kilomter von der eigentlich Stadt Buenos Aires entfernt. Als allgemeine Faustregel kann man hier sagen, je weiter ein Viertel von Capital 1 entfernt ist, desto ärmer ist es auch. Das Refu ist ziemlich weit von der Hauptstadt entfernt. Mit dem Bus brauche ich je nachdem, ob der Bus kommt und Verkehr zwei bis drei Stunden. Dementsprechend gibt es hier mehr Menschen, die finanzielle Probleme haben, Drogenabhängig sind und allgemein sind die Familien hier um einiges größer, als im Durchschnitt2 Menschen, die in Capital wohnen, haben einen festen Job undsind generell finanziell für argentinische Verhältnisse sehr gut aufgestellt. Die Preise dort sind selbst für mich, als ''reichen Europäer'' hoch. Mein Viertel, Virrey del Pino, ist eine ganz andere Welt. Hier leben viele Menschen von Unterstützungen des Staates oder sehr schlecht bezahlten Jobs. Ein Polizist verdient nach Steueren etwa 80 000 Argentinische Pesos, was nach offiziellem Bankkurs aktuell 450€ und nach Schwarzmarktkurs 250€ entspricht3. Damit hat man hier ein solides Einkommen. In Deutschland würden wohl die meisten Menschen die Frage, Wurdest du schon mal auf der Straße beraubt?, belächeln und mit einem Nein beantworten. Hier ist das nicht so. Allein zwei Freunde aus dem Refu haben zur Zeit kein Handy, weil es ihnen auf der Straße geklaut wurde. Besonders abends muss man aufpassen. Generell kann ich mich aber mit Leuten aus der Gegend, in größeren Gruppen oder im Auto auch nach Sonnenuntergang ohne größere Probleme draußen aufhalten und sollte schauen, mit wem und wo man unterwegs ist. Zum Glück sehe ich mit meinen dunklen Haaren sehr argentinisch aus 4. Besonders mein typisch argentinischer Haarschnitt lässt mich hier in den Massen untertauchen...
Wie lebe ich hier?
Der erste große Unterschied, der mir in meinem neuen Zuhause aufgefallen ist, war das Geschirrspülen. Ich klinge jetzt wahrscheinlich etwas lächerlich 5, aber ich wusste nicht, wie man richtig per Hand Geschirr wäscht. Klar habe ich das Geschirr beim Campen oder in Ferienlagern ab und zu per Hand gewaschen. Aber in meinem Alltag habe ich mich mehr auf die Spülmaschine verlassen, als mir bewusst war. Ich habe mich erstmal direkt wie ein richtig vertätschelter Europäer gefühlt. Vor allem, weil die Lebensverhältnisse im Refu vergleichsweise sehr gut sind. Das Zusammenleben hier lässt sich im Grunde genommen in einem Wort beschreiben: Männer-WG. Insbesondere beim Essen trifft dieser Vergleich sehr gut zu. Es gabe einmal zum Frühstück Pizza, zum Mittag Reis mit so einer schnellen Fleisch-Soße und zum Abendbrot Hotdogs. Aktuell wohnen wir im Refu zu viert: Padre Sergio, Franco, Luciano und ich. Franco ist einer der Seminaristas der O.M.I6 und seine etwa halbjährigen Erfahrungen im Refu sind ein erster Schritt auf seinem Weg zum Priester. Luciano ist ein Rentner aus Italien, der über seine Gemeinde vom Refu erfahren hat und ein 3-monatigen Freiwilligeneinsatz hier macht. Zusammen mit ihm wohne ich in einer Wohnung neben der Küche. Die Seminaristas und Padre Sergio wohnen hingegen im etwas größeren Haupthaus, wo wir auch immer zusammen essen. Ansonsten laden wir auch manchmal Leute aus dem Refu ein, die dann bei uns mitessen und quatschen. Zur Zeit ist der Padre bei einem spirituellen Rückzug. Deshalb wohnt Chacu bei uns. Er arbeitet jeden Tag im Refu an allem möglichen und hält das Gelände instand. In den ersten zwei Monaten in Buenos Aires fiel es mir noch sehr schwer den Gesprächen zu folgen, geschweige denn Witze zu verstehen. Mittlerweile komme ich ganz gut klar. Mir fehlen besonders bei tieferen Gesprächen oft Vokabeln, aber wenigstens verstehe ich jetzt den Großteil. Das einzige Bedrückende an dem Zusammenleben hier ist, dass alle aus der Kommunität früher oder später wieder gehen müssen. Nur der Padre bleibt. So werden zum Beispiel Franco und Luciano schon anfang Dezember gehen. Der 'nächste' Mirbewohner wird wahrscheinlich erst im Februar oder März nächsten Jahres hier einziehen. Das heißt, ich werde einige Zeit allein mit dem Padre zusammenleben. Padre Sergio ist wirklich nett, aber ich genieße es gerade sehr, mit Leuten meines Alters umgeben zu sein.
Welche Aktivitäten gibt es im Refu und bei welchen helfe ich mit?
Merienda
Essen ist in Argentinien so eine Sache. Es ist nicht nur sehr anders, sondern auch die Essenszeiten sind für mich komplett neu. Frühstück und Mittag sind noch ganz normal. Das Kaffeetrinken ist hier allerdings unglaublich spät. Es gibt täglich um 17:00 Uhr und 18:00 Uhr erst für die Kleinen und dann für alle anderen Merienda, das Äquivalent zu unserem Kaffetrinken. Das Essen ist insgesamt ziemlich ungesund, aber die Kinder fordern halt immer Unmengen an Zucker, sonst schmeckt es ihnen nicht.
- Galletitas: Oft nehmen wir hier so zwei runde Butterkekse, schmieren Dulce de Leche7 dazwischen
- Flan: Manchmal gibt es auch das argentinische Äquivalent zu Pudding. Den bereite ich dann morgens vor.
- Torta Frita: Schnell frittierte Teigstückchen, ähhlich wie Fladen
- Mate Cocido: Ein Tee, auf Basis von Mate, in den wir für die Kinder Unmengen von Zucker schütten müssen 😕
- Chocolatada: Kakao, aber aus Milchpulver. Damit der Geschmack des Milchpulvers(🤮) nicht so stark ist, ist auch die Schokolade unglaublich süß
Und vieles mehr... Hauptsache es geht schnell zu machen und ist süß. Insgesamt muss täglich Merienda für etwa 50 bis 80 Leute gemacht werden. Die Gruppe in der Küche ist sehr cool und mit denen macht es Spaß, mit denen Zeit zu verbringen.
Grupo de ninos
Jeden Montag ist das Refu nur für die kleineren Kinder bis 12 Jahre geöffnet. Um die kann sich so besser gekümmert werden. Denn in vielen Familien gibt es große Probleme und viele Eltern sind hier getrennt, alleinstehend oder mit neuen Partnern zusammen. Einige der Eltern der Kinder im Refu haben zudem Probleme mit Drogen und kümmern sich nicht immer gut oder gar nicht um ihre Familie. Deshalb wird den kleineren Kindern jeden Montag ein Essenspaket mitgegeben. Das Refu erhält vom Staat und von der Karitas Unterstützung in Form von Geld und Lebensmittellieferungen. Hier werden diese sortiert und als der Essenspakete verteilt. Meine Aufgabe ist es, diese Pakete zu packen.
Volleyball
Sport ist neben dem Essen im Refugio einer der Hauptgründe, weshalb so viele Kinder regelmäßig kommen. Fußball ist für viele sehr wichtig und es gibt ein Handballteam. Der für mich interessanteste Sport ist allerdings Volleyball. Dienstag und Donnerstag werden auf dem Sportplatz Volleyballnetze aufgebaut und es wird frei gespielt. Dabei werden die Teams für jedes Spiel immer spontan gebildet. Das gefällt mir besonders. Ansonsten gibt es mittwochs und freitags Training für die Fortgeschritteneren. Etwa 25 SpielerInnen spielen hier regelmäßig und bereiten sich auf Spiele gegen Teams aus der Nähe vor. Bereits zweimal bin ich mit Ihnen zu solchen Spielen zu anderen Volleyball-Clubs gefahren. Bisher noch mehr zum Zuschauen, aber seit Kurzem trainiere ich jeden Freitag mit 😃
Pfadfinder
Die Pfadfinder sind eine sehr große und aktive Gruppe im Refugio. Jeden Samstag treffen wir uns, um zu quatschen, spielen, 'survival-skills' zu lernen und planen campamentos. Die Campamentos sind wohl das Wichtigste für die Pfadfinder. Etwa alle zwei Monate fahren wir nämlich übers Wochenende oder manchmal sogar eine ganze Woche weiter aus Buenos Aires raus und campen. Letztes Wochenende war das letzte Camp mit den Rovers. Das ist die älteste Gruppe der Pfadfinder und besteht nur aus 18 bis 21 Jährigen. Was mich bei den Pfadfindern anfangs sehr überrascht hat ist, dass sie ziemlich christlich geprägt sind. Glaube ist bei den Pfadfinderregeln, den Aktivitäten und der Einstellung der Leiter viel zentraler, als ich mir vorstellen konnte. Für meine Gruppe, die Rovers, gibt es Ende Dezember ein Highlight. Wir machen eine Fahrt bis nach San Luis. Per Bus brauchen wir bis zu dieser Provinz Argentiniens mehr als 14 Stunden. Besonders, weil viele aus der Gegend hier noch nie oder nur wenige Male Urlaub mit ihrer Familie gemacht haben, ist dieses Campen sehr aufregend. Wir sind auch schon am Geld-Sammeln. Bisher haben wir schon dreimal Pizza-gebacken und verkauft und zweimal Wassereis vorbereitet.
Apoyo scholar
Ein weiteres wichtiges Angebot des Refugios ist die Hausaufgabenhilfe oder hier Apoyo scholar. Es gibt eine feste Gruppe von drei Helferinnen, die jeden Tag von Dienstag bis Freitag die kleineren Kinder bei Aufgaben unterstützen und zur Schule zusätzliche Übungen machen. Jeden Donnerstag helfe ich dort auch mit. Besonders bei Englisch und Mathe kann ich etwas mithelfen. Es ist nur manchmal schwierig mit den Kindern zu arbeiten, da die 6- bis 10-Jährigen sich teilweise super schlecht konzentrieren können. Einfach nur 10 Sekunden bei einer Aufgabe zu bleiben ist für einige fast unmöglich. Trotzdem ist es schön die Fortschritte zu sehen.
Noche de Caridad
Jeden Donnerstag ist die Noche de Caridad, die Nacht der Barmherzigkeit. Ab 15:00 Uhr nachmittags bis abends wird Essen für etwa 30 bis 40 Personen gekocht und in Plastikschalen abgefüllt. Eine kleinere Gruppe fährt später bis Mitternacht im Viertel, sowie im etwas ärmeren Stadtteil Laferrere herum und verteilt die Essenspakete zusammen mit Brot und etwas Saft an Obdachlose. Ich bin bis jetzt viermal mitgefahren und habe jedes Mal wieder eine Vielzeit von Menschen kennengelernt. Alle Lebensgeschichten sind sehr bewegend und traurig. Bei der letzten Noche de Caridad habe ich zum Beispiel einen Daniel kennengelernt, der mir von Daniel in der Löwengrube erzählt hat und eigentlich sehr nett war. Auch hat er als Fensterputzer auf der Straße gearbeitet. Das einzige Problem: Mit Autofenster-Putzen verdient man nur das Kleingeld der Menschen, die selbst nicht viel haben. Man hat der Gruppe schon am frühen Abend angemerkt, dass sie sich im Laufe der Nacht ordentlich besaufen werden. In jedem Fall freuen sich alle, denen wir warmes Essen bringen, unglaublich. Auch ist es wichtig zu zeigen, dass deren Leben und deren Probleme nicht allen egal ist und sie auch wertgeschätzt werden.
Andere
Hier will ich gar nicht zu sehr ins Detail gehen. Aber im Refu ist noch viel mehr los. Ich habe gar keine Zeit, bei allem mitzumachen. Hier ein paar Schlagwörter: Fußball, Handball, Backkurs, Gitarrenunterricht, Folkloretanz, Gruppen zum Reden für junge Mütter und Schwangere...
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Steht für die eigentliche Stadt Buenos Aires. Drumherum gibt es noch Provincia Buenos Aires. Die Provinz ist rein flächenmäßig betrachtet um einiges größer, als die autonome Stadt Buenos Aires und generell um einiges ärmer. ↩
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Einige Kinder im Refu haben um die 10 Geschwister... ↩
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Allerdings kann man in Argentinien von der Bank monatlich nach offiziellem Kurs maximal 100 Dollar kaufen. Außerdem gibt es oft zu wenige Devisen, die von der Bank verkauft werden. Das ist der Grund, weshalb der Dollarkurs auf der Straße so in die Höhe getrieben wird und viele Argentinier selbst zu so einem schlechten Kurs Dollar kaufen. ↩
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Einige Leute hier haben mich schon für argentinisch gehalten - bis ich angefangen habe, zu sprechen 🤣 ↩
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Besonders für meine älteren LeserInnen - Shoutout an Mama und Papa ↩
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Das ist der katholische Orden, der das Refugio finanziell unterstützt und von dem auch Padre Sergio kommt ↩
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Eine süße Karamellcreme, die in Argentinien sehr beliebt ist. Praktisch ist das deren Alternative zu Nutella. Denn Nutella können sich nur die Wohlhabenden leisten. ↩